Martenstein liest, Clementi singt Zeitlieder – Kunstbox Seekirchen

Nachschlag dringend erbeten

Wer um 23.01 Uhr in Seekirchen zur letzten S-Bahn hetzt, ist entweder auf der Flucht oder war bei MARTENSTEIN LIEST, CLEMENTI SINGT ZEITLIEDER – der wunderbar kurzweiligen musikalischen Lesung mit dem Hang zur Zugabe.

Verfasserin hat es als Teilzeit-Sprachpuristin nicht so mit Anglizismen. Das ist verständlich, manchmal aber auch von Nachteil. Zum Beispiel dann, wenn die entlehnten Komposita wie die gemeine Faust aufs Auge passen. Spin-offs sind so ein Fall; wörtlich übersetzt die ‚Ableger‘ einer Serie. Ist eine Nebenfigur unglaublich erfolgreich und bekommt ihr eigenes Format, spricht man von einem Spin-off (Ableger klänge vermutlich zu profan). Kürzlich wurde an dieser Stelle die Rezension zum ZEITLIEDER-Konzert von Georg Clementi publiziert. Eh schon wissen, der Liedermacher, Schauspieler und Regisseur, der sich gerne von Artikeln aus der gleichnamigen Hamburger Wochenzeitung inspirieren lässt. Daraus entstehen dann wunderbare Klang-Erlebnisse in der Tradition des französischen Chansons – nur eben auf Deutsch. Wer jetzt „Schlager-Alarm!“ schreiend die Flucht ergreifen möchte, halt nein, stehen geblieben. Tatsächlich sind die ZEITLIEDER „Kino für die Ohren“ – mit pointiertem Wortwitz, intelligenten Beobachtungen und kluger Divergenz.

Fliegende Träume

Dass Georg Clementi ein Faible für einige ZEIT-Autoren*innen besitzt, daraus macht der Chansonnier keinen Hehl. Das muss vermutlich auch so sein, sonst würden ihn ihre Artikel nicht entsprechend inspirieren. Einer hat es ihm dabei aber trotzdem besonders angetan: Harald Martenstein. Aus dieser Leidenschaft entstand dank Martensteins Gegen-Euphorie das musikalisch-literarische Spin-off MARTENSTEIN LIEST – CLEMENTI SINGT ZEITLIEDER. Im Anschluss an diese (damals noch) Vision kaperte Georg Clementi das eigene, bereits in der Kunstbox Seekirchen arrangierte ZEITLIEDER 3-Konzert und fertig war der sehr reale musikalische Leseabend.

Es muss einfach erwähnt werden: MARTENSTEIN LIEST – CLEMENTI SINGT ZEITLIEDER ist eine sehr begrüßenswerte Kooperation. Immerhin bedeutet diese Sonderedition eine geballte Ladung musikalisierter Literatur. Dabei wurde penibel auf den 50:50-Charakter geachtet, hier kommt kein Künstler zu kurz. Aus diesem Grund startet der literarische Musikabend auch gleich mit einer „Ich träume“-Verbeugung an den Kolumnisten. Die Richtung ist damit klar, die gute Laune und Euphorie von Liedermacher Georg Clementi und Musiker*in Sigrid Gerlach und Ossy Pardeller höchst ansteckend. Im Anschluss folgt ein Artikel dem nächsten, mit kleinen Erklärungen vom Autor und wunderbar applizierten Humor-Dosen. Dass Harald Martenstein der feinen Ironie genauso frönt wie Georg Clementi, wird rasch deutlich. Hier haben sich zwei verwandte Seelen gefunden und harmonieren prächtig. Zwischen den Kolumnen, die meistens humorig, manchmal aber auch ernst sind, und des Öfteren Wiedererkennungswert besitzen, streuen Liedermacher und Musiker*in eindrückliche ZEIT-Chansons.

Männer lästern nicht? Ha! …

Selbstverständlich steckt hinter dem Arrangement ein Konzept. Verfasserin ist sogar geneigt, es als didaktisch zu bezeichnen. Schließlich ermöglicht der Martenstein & Clementi-Abend einen einzigartigen Einblick in die wunderbare Welt der ZEIT(lieder). Wie wählt Harald Martenstein seine Themen? Wie sind die Artikel im Urzustand und wie als Chansons? Fragen wie diesen geht die musikalische Lesung unaufdringlich und humorig auf den Grund. Gleichzeitig werden nicht nur alle drei ‚verchansonierten‘ Martenstein-Kolumnen präsentiert, sondern ermöglicht der Autor zusätzliche Einblicke in weitere Arbeiten. Immer wieder bittet ihn Clementi um eine Beschreibung seiner ZEIT-Kollegen*innen, die er meistens auch schmunzelnd liefert. Männer lästern nicht? Ha, an diesem Abend wird das gerne von Männern bemühte Argument auf der Bühne eindrücklich widerlegt. Und frau darf ihnen dabei ganz ungeniert zusehen.

Der Schauspieler im Liedermacher

Und Georg Clementi? Der hat sichtlich Freude an diesem ganz besonderen Abend und gibt mit Sigrid Gerlach und Ossy Pardeller eine wunderbare (Achtung, Anglizismus) Live-Performance. Dazu trägt sicherlich auch die spezielle Wandelbarkeit des Liedermachers bei, die dem Schauspieler in ihm gezollt sein dürfte. Bei jedem Song nutzt Georg Clementi dieses Potential und schlüpft in das lyrische Chanson-Ich. Das ist nämlich auch so eine Besonderheit der ZEITLIEDER, diese Ich-Perspektive. Vielleicht ist das dem Kolumnen-Charakter des literarischen Gros gezollt, in jedem Fall bieten es eine breite Bühne. Von der herumdrucksenden 17jährigen Amelie-Sophie, die bourgeois rebelliert („Das Kopftuch“), bis zur 81jährigen, die weise Resümee zieht („Lied einer alten Frau“). Selbstverständlich wieder mit dieser Extraportion Mimik und Gestik, die so einem Clementi-Abend inne wohnt und ihren Höhepunkt im „Sie tun’s schon wieder“ findet.

 

Fotonachweis: Anna-Maria Löffelberger (ZEITLIEDER), C. Bertelsmann (Harald Martenstein)

Facebooktwitterredditpinterestlinkedinmailby feather

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert