Nichts, was im Leben wichtig ist – Schauspielhaus Salzburg

Lord of the plums

Kann Lesen die Gesundheit gefährden? Nein, genauso wenig wie Theater – höchstens spannend-einfühlsam inszenierte Antworten auf oft gestellte Fragen bieten. Petra Schönwalds NICHTS – WAS IM LEBEN WICHTIG IST am Schauspielhaus Salzburg zeigt es vor: meget flot.

„Lasst mich durch, ich bin Schaulustige!“ – Zugegeben, der Skandal macht neugierig. Schließlich passiert es nicht alle Tage, dass Pädagogen, Eltern und andere Erwachsene in Dänemark, Frankreich oder Norwegen zum Literatur-Boykott aufrufen. Ausnahmen bestätigen freilich die Regel – und wir sprechen hier noch gar nicht von der amerikanischen ‚Trigger Warning‘-Unsitte, die sich wie eine Pandemie ausbreitet. Vielmehr begibt sich der Jugendroman der dänischen Autorin Janne Teller „Nichts, was im Leben wichtig ist“ auf die  Spuren von William Goldings „Lord of the Flies“. Wer erinnert sich? Die Robinsonade mit den gestrandeten Kindern, die ein gewalttätiges Eigenleben entwickeln.

Was ist im Leben wirklich wichtig? Pierre Anthon wähnt sich im Besitz der Antwort: Nichts. Deshalb fühlt er sich auch seinen Schulkameraden*innen aus der 7A so überlegen. Nach den Ferien verweigert er den Schulbesuch, verschanzt sich lieber auf einem Zwetschkenbaum (so viel Austriazismus muss sein) und bewirft die anderen von dort oben mit Früchten und Spott. Die können ein Leben ohne Sinn nicht auf sich sitzen lassen und feilen deshalb an einem ‚Berg der Bedeutung‘ – auf dem häufen sie ihre wertvollsten Schätze. Mit der Zeit erreichen die allerdings eine grausame Brisanz und fordern schließlich sogar einen Toten.

In der letzten Spielzeit inszenierte Petra Schönwald mit SUPERGUTE TAGE ODER DIE SONDERBARE WELT DES CHRISTOPHER BOONE bereits ein eindrückliches Jugendstück, das durchaus auch dem erwachsenen Repertoire zuzurechnen wäre. Auf ähnliche Pfade hat sich die Regisseurin mit NICHTS – WAS IM LEBEN WICHTIG IST begeben. Das moderne Märchen und die intensive Parabel hob P. Schönwald mit Schülern*innen der hauseigenen Schauspielschule auf die Bühne und schafft einen faszinierenden Rahmen, der sogar die kichernden Störenfriede aus dem Publikum früher oder später (früher!) zum Verstummen bringt (Ausstattung: Ragna Heiny, Musik: Christopher Biribauer, Licht: Marcel Busa, Dramaturgie: Theresa Taudes, Maske: Maria Gradl).

Fatale Sinnsuche

Das Bühnenbild lässt sich wunderbar bibliophil und antiquarisch an: Der Zwetschkenbaum besteht aus einer Tür, an der sich große und kleine Schubladen stapeln, die Pierre Anthon regelmäßig erklimmt – dazwischen eine Retro-Sitzgelegenheit und ein rosaroter Vogelkäfig. Was wie ein gemütliches kleines Bücher-Café wirkt, wird zum emotionalen Spielboden für den philosophischen Showdown über den Sinn des Lebens. Der darin verpackte Diskurs lässt sich alles andere als verstaubt oder elitär an; vielmehr setzt sich die Produktion auf die Spur orientierungsloser Jugendlicher, die  – weder Kind noch Erwachsene – bereits von gesellschaftlichen Konventionen konditioniert sind. Das spiegelt sich im Auftreten der Figuren wider: Vier Schüler*innen, die aussehen wie das persiflierte Bildnis ihres späteren Selbst. Und genauso verhalten sich Agnes (Tilla Rath) und die anderen (Cora Mainz, Jakob Kücher, Lukas Bischof) auch, wenn sie sich ungelenk gegenüberstehen und in unbeholfenen Erwachsenen-Posen oder -Floskeln üben. Das hat etwas durchaus Rührendes an sich, was allerdings nicht lange währt; nach und nach streifen sie ihre Unsicherheiten ab und fallen von einem Extrem ins andere.

Der erste Stein

Die ratlosen Jugendlichen stellen das Gros und sie hätten sich vermutlich auch in ein angepasstes, für sie vorbestimmtes Leben pressen lassen, wäre da nicht Pierre Anthon (Jonas Breitstadt) – der unbequeme Stachel im Fleisch von uns allen, der nagende Gedanke, der immer wieder nach einem Sinn im Leben Ausschau halten lässt. Provokant und überlegen marschiert der eigentümliche Außenseiter am ersten Schultag mit den nihilistischen Worten großer Philosophen aus dem Klassenzimmer – Nichts habe eine Bedeutung, schließlich bewegen wir uns alle von der Stunde unserer Geburt unablässig auf unseren Tod zu. Seine kaltschnäuzig verbal gelegte Zündschnur unterstreicht der Aufmüpfige szenisch gelungen mit einer weiteren Variante aus Kieselsteinen. Arrogant begibt er sich danach auf sein hohes moralisches Ross – den Zwetschkenbaum. Dort oben thront und höhnt eine Figur, die J. Breitstadt mit jeder Menge adoleszenter Verachtung ausstaffiert und zum querdenkenden Anti-Helden kürt.

Wie du mir, so ich dir: Große Gesten

Die Grausamkeiten der Kinder beginnen langsam… Kieselsteine fliegen in Pierre Anthons Richtung, um ihn vom Baum zu holen. Alleine, das funktioniert nicht. Taten müssen her – sie beschließen, ihren Berg aus Bedeutung zu bauen. Mit den entfesselten Gedanken und Aktionen fallen auch die Requisiten: Die Jugendlichen entledigen sich ihrer biederen Frisuren, der angepassten Jacken. Es sind szenisch eindrückliche und intensive Momente, die P. Schönberg mit den Schauspielern*innen kreierte. Durch das Spiel von Licht und Musik werden mit einfachen Mitteln spannend-grausame Momente evoziert. Entsetztes Aufschreien, als J. Breitstadts Pierre Anthon plötzlich an unvorhergesehener Stelle auftaucht. T. Rath greift als Agnes zum Mikro und bricht einmal mehr die Perspektive – von der Erzählerin zur direkten Figurenrede. L. Bischof wirkt als Langer Hans gerade durch seine Wortlosigkeit und den reduzierten, entschleunigten Gestus so bedrohlich, J. Kücher schließt sich ihm schweigend an. Bedrückende Stille bei T. Raths eindrücklich empathischem Spiel nach Sophies Opfer. Die moralische Bedeutsamkeit wird durch die Absage an jegliche Moral zum Ausdruck gebracht: Kichernd erzählen die Jugendlichen von ihren grausamen Plänen und Taten. Der Effekt könnte kaum besser funktionieren als ein Kübel eiskaltes Wasser, der sich über den Zuschauerköpfen ergießt. Erschrecken in den Reihen, diabolische Zufriedenheit auf der Bühne.

Spannend bleibt die auf Metaebene kursierende Botschaft: Wenn alles keinen Sinn hat, warum bemühen sich die Jugendlichen dann so vehement darum? Genau dieses Streben stiftet doch das ersehnte Gefühl. Übrigens scheint es durchaus stringent, dass Pierre Anthon schließlich das größte aller Opfer erbringen muss.

Und für alle Trigger Warning-Fans: Quatsch mit Soße! NICHTS – WAS IM LEBEN WICHTIG IST legt gerade durch seinen fiktiv drastischen Charakter den Finger in die moralische Wunde. Zeit auszubrechen, sich von Konventionen freizuspielen und das Leben zu genießen – denn dadurch erhält es sogar eine Extraportion Bedeutung.

 

Fotonachweis: Ernst Wukits

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