36 Stunden – Eine Produktion von Max Pfnür

Kleiner Mann – was nun?

Nach Horváths düsterem Zeitspiegel inszenierte Georg Büttel 36 STUNDEN. Die Uraufführung begeistert nicht nur mit großartigem Schauspiel, sondern auch mit homogen-modernem Gesamtkonzept: Ansehen, ansehen, ansehen.

In 36 Stunden kann so einiges passieren: Die einen werden geboren, die anderen sterben. Die einen schauen sich eine komplette Serie auf ex und hopp an, die anderen gehen vier Mal ins Theater (vorausgesetzt mindestens zwei Vorstellungen davon sind Matineen). Kurzum, 36 Stunden ist tatsächlich eine wirklich lange Zeitspanne. Die nahm sich auch der österreichische Dramatiker Ödön von Horváth zur Brust. Das war 1928/29.

Horváth publizierte „Sechsunddreißig Stunden“ zwar nie, dafür nutzte er den Roman als Fundgrube für seinen „Ewigen Spießer“. Auch gut. Noch besser allerdings, dass sich ein Schauspieler und eine Schauspielerin jetzt des vernachlässigten Erstgeborenen annahmen. In der Regie von Georg Büttel wurde 36 STUNDEN aus der uraufgeführten Taufe gehoben und das mit Pauken und Trompeten (Musik: Thomas Unruh, Dramaturgie: Jonas Meyer).

Was vom Autor als kritischer Spiegel für die späten 1920er Jahre gedacht war, wirkt auch fast 100 Jahre später noch keineswegs verstaubt. Ganz im Gegenteil – auf beängstigend überzeitliche Weise bewahrte sich 36 STUNDEN seine Aktualität und oszilliert zum Ebenbild der nächsten Generation(en).

Es ist die Zeit der großen Depression – die Weltwirtschaftskrise regiert. Arbeitslosigkeit haben den kleinen Mann und die kleine Frau längst im Griff. Das Auskommen ist schwer, die Sprache derb und die Aussichten sind düster. Agnes kann ein Liedchen davon singen: Vom Leben hat die bedauernswerte Waise bisher nur die Schattenseiten kennengelernt. Affären hatte das nicht mehr unschuldige Münchner Mädel und geborene Oberpfälzerin auch schon einige – da machen wir uns nichts vor. Dann trifft sie eines Morgens vor dem Arbeitsmarktservice, das damals noch städtisches Arbeitsamt heißt, Eugen. Ein beschäftigungsloser Kellner, der im Krieg war. Die beiden freunden sich an, kommen sich näher, dann versetzt Agnes den Eugen für Harry. Blöde Sache, aber Harry hat halt ein Auto und nicht irgendeines: Nein, für ein Cabriolet kann man den anderen schon mal sitzen lassen, auch wenn sich der Harry hinterher als Fehler entpuppt. Und dann steht der vernachlässigte Eugen plötzlich mit einem Jobangebot vor Agnes.

Sitzt, wackelt und hat Luft

36 STUNDEN setzt auf ein stringentes Regiekonzept, das voll aufgeht. Das lebt unter anderem auch von dem mehr als puristischem Bühnenbild und begeistert eben gerade durch seine Simplizität. Außerdem wohnt ihm bereits dieses merkwürdig-spannende Moment inne, das aus ‚unscheinbar‘ bei näherer Betrachtung ein Wimmelbuch voller Erzählungen erweckt. Praktischerweise passt das vermutlich sogar in einen Kofferraum (auch wenn es gerade kein Cabriolet sein sollte).  Dieser Trend setzt sich bei den Schauspieler*in fort. Aus einem Duo wird binnen eines Augenaufschlags ein ausgewachsenes Ensemble. Das setzt auf Diversität und wechselt im Nanosekundentakt die verschiedensten Ebenen – egal in welchem Meta-Bereich es sich gerade tummelt. Licht und Musik stimmen ein und akzentuieren die verschiedenen Wandel, Traumsequenzen, Tragödien, Komödien – kurz: Szenen mit fein abgestimmtem und klug arrangiertem visuell-akustischem Plan.

Die Agnes und der Eugen und alle anderen auch

Als naiv-fröhliche Agnes Pollinger, die an liebenswert-nervöser Logorrhö laboriert, begeistert Pia Kolb. Mit ausdruckstarkem Mienenspiel lässt sie ihre Figur träumen und scheitern, Hoffnung schöpfen und wieder unsanft in der Realität aufprallen. Vielleicht sind es gerade diese Höhen und Tiefen, die das Publikum gemeinsam mit der gebeutelten Protagonistin durchlebt, vielleicht aber auch die eindrückliche Figurenzeichnung, die Agnes zur weiblichen Sympathieträgerin und so menschlich fehlbar macht. Ihren Zweckoptimismus büßt das Münchner Stehauf-Fräulein ausdrucksstark und bedrückend fast ein, aber noch hat sie ihr ganzes Leben vor sich, möchte frau sich selbst tröstend einreden. Spontaner Wechsel – als käufliche Berlinerin erheitert P. Kolb gemeinsam mit Max Pfnür (Eugen). In gestenreicher Stummfilm-Manier rekapitulieren die beiden den tragisch heiteren Augenblick, als ihren filmischen Alter Egos soziales Unrecht widerfährt. Es ist schwer, dabei Contenance zu wahren.  Das ist überhaupt so eine Sache bei 36 STUNDEN – die Tragikomödie erweist sich als höchst programmatisch. Offen-ehrliche Darstellungen regen gerade durch ihre ungeschönte Pointiertheit zum Lachen an, wobei die Tragik bereits unter der Oberfläche lauert. Das Lachen möchte einer im Hals stecken bleiben, allein der Drang ist stärker.

Immer wieder kommt die Handlung zu einem abrupten Halt – das Licht wechselt, die Musik ändert sich – gedankliche Einschübe und Retrospektiven ermöglichen tiefe Einblicke in das Seelenleben der Figuren und ihre Vergangenheit. Die war für beide alles andere als einfach. Max Pfnür erscheint nicht nur als alte, ewig nörgelnde Tante Agnes‘, sondern auch als messianischer weißer Eugen, eine Art transzendente Erscheinung in einem psychodelischen Traum. Die Einflüsse der aufkeimenden Psychoanalyse machen sich bemerkbar und finden in M. Pfnür einen sehr bespielbaren Schauspieler.  Sein Eugen ist ein einfacher und eigentlich schüchterner Ex-Kellner mit dem Herz am rechten Fleck. Als Agnes ihn versetzt, marschiert er die Straße rauf und zählt bis 20. Ist Agnes bis Zwanzig nicht da, will er gehen. Allein, mindestens dreimal läuft her hin und her und zählt bis 20… [oohhh!] Auch wenn er Fräulein Pollinger danach voller Inbrunst als ‚Mistvieh‘ tituliert, kann er nicht anders und verschafft ihr trotzdem einen Job. Freilich nicht gänzlich uneigennützig, immerhin macht ihn seine gute Tat zu einem besseren Menschen, soviel Katholizismus muss sein. Gleichzeitig überbietet sich M. Pfnür mit seinen sekündlichen Rollenwechsel, die er in so schnellem Tempo vollzieht, dass sie beinahe simultan erscheinen. Dass der Schauspieler nach der Vorstellung noch weiß, wer er selbst ist, scheint irgendwie erstaunlich. Mit den verschiedenen Changements ändert sich auch der Ausdruck, von einem Extrem fällt M. Pfnür ins andere. Zur Höchstform läuft er als Tom Mix auf und springt als Wildwest-Held voller ungezügeltem Elan durch das Studio, dass dem Publikum vor Staunen die Münder offen bleiben (und es spontanen Zwischenapplaus spendet).

Eine ungeschönte Sozialstudie und Augenblicke der Hoffnung stehen einer großartigen sprachlichen Ausdruckskraft und beeindruckendem Schauspiel gegenüber. Ein faszinierendes Arrangement, dem Georg Büttels 36 STUNDEN eine wunderbare Tiefe und heiter-tragische Note verleiht. Das kann sich eines gewissen Optimismus‘ nicht entziehen – oder um Horváths finalen Satz zu zitieren: „Es ist nur gut, wenn man weiß, wo ein Mensch wohnt.“

 

www.max-pfnuer.com
Fotonachweis: Marc Gilsdorf

 

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