„Reigen“ am Schauspielhaus Salzburg
Losgelöst von konventionellen Vorlagenzwängen setzt Anne Simons REIGEN am Schauspielhaus Salzburg auf Regietheater und Feminismus.
Skandal verpflichtet. Arthur Schnitzler sorgte mit seinem REIGEN für einen legendären. Nach einer Teilaufführung 1903 folgte die Uraufführung am 23. Dezember 1920 am Kleinen Schauspielhaus in Berlin. Stein des Anstoßes war das Sujet, das sich nur um das eine dreht: vor, während und nach dem Geschlechtsverkehr. So viel Offenheit und pikante amoralische Bloßstellung goutierte die Gesellschaft nicht. Was folgte war ein Pornografieprozess, der die Verlogenheit der bürgerlichen Moralvorstellungen allerdings erst richtig entlarvte.
Happy Birthday REIGEN
Wie also diesem skandalumwitterten Klassiker der österreichischen Literaturgeschichte zum vermutlich 10.000en Mal neu inszenieren? Gar nicht so einfach, dem Fin de Siècle haftet schließlich bereits ein stattlicher Bart an. Wer will heute wirklich noch ein Spiel im originalen Jahrhundertwende-Ornat bewundern? Da müsste man die Taschentücher zücken, um sich nicht am Staub zu verschlucken. Eben. Einen sehr erfrischend und gleichzeitig aufrüttelnden Zugang bietet Anne Simons Variante (Ausstattung: Isabel Graf, Dramaturgie: Tabea Baumann, Licht: Marcel Busá). Übrigens vielleicht nicht auf den Tag genau, aber dennoch 100 Jahre Post-Uraufführung.
Literarische Gleichung
Anne Simon setzt für ihre Inszenierung auf den klassischen Reigen-Aufbau und reduzierte ihn zum Skelett. Das heißt, nach wie vor treffen zehn Personen aus fünf verschiedenen Gesellschaftsschichten in zehn Dialogen aufeinander. Frei nach dem Prinzip a + b, b + c, c +d und so weiter bis sich der Reigen mit j + a schließt. Das war es dann aber zum Gros auch schon mit den Parallelen. Ist der Auftakt noch relativ ähnlich, die Dirne trifft auf den Soldaten, kommt es bereits hier zu ersten Abweichungen. Typisch für Schnitzlers Original sind seine Typen. Die Dirne, der Soldat, das Stubenmädchen, etc. Hier wird niemand konkret benannt, es treten nur Vertreter ihrer Schicht auf, die sich vor allem durch ihren jeweiligen Soziolekte differenzieren. So weit, so Schnitzler-isch. An dieser Stelle setzte die Regisseurin bereits den Stift an und ergänzte munter in die Moderne.
Artificial Intelligence und Arthur Schnitzler
Spezielle Typen? Mag sein, ja, aber gleichzeitig tragen sie Namen. Alexa, Marie, Emma, Alfred oder Robert stehen in diesem temporeichen Reigen dennoch für ihre Generationen. Zumindest legt das Alexa nahe. Die Dirne (gelungen und frivol Tilla Rath) macht dem Soldaten schöne Augen (Bülent Özdil charmant zwischen Wien und Bayern oszillierend und mit brutalen Anwandlungen). In der letzten Szene kehrt die Dirne wieder. Schließlich triff j auf a, Vorhangfall REIGEN und so. Tut sie auch. Allerdings eher als Reinkarnation oder Wiedergängerin. Die Dirne des 21. Jahrhunderts konstituiert sich aus AI – Artificial Intelligence. Eine gelungene Projektion auf die Schauspielerin macht es möglich, die im obligatorischen Alexa-Tonfall dem Grafen ihr Wohlwollen kundtut. An einen Penny-Dreadful-Roman erinnert der Blutfleck auf ihrer Brust. Ein schauriger Moment, der gleichzeitig zum Innehalten ermahnt und Kritik äußert.
Dance Macabre
Zwischen den Alexas erfolgt ein kritischer Tanz durch die Jahrhunderte. Magdalena Oettl wandelt sich vom missbrauchten Stubenmädchen zum süßen Mädel. Sexualität wird in all seinen Facetten präsentiert, auch den besonders hässlichen. Immer zeitgenössischer die Anspielungen, Kostüme und bisweilen auch die Dialoge. Mit Letzterem bricht die Regisseurin eine Lanze für die Rechte der Frauen. Wenn Magdalena Oettls Fräulein Marie plötzlich in Brecht’scher Verfremdungsmanier sich vor dem Publikum positioniert und eindringlich daran erinnert, dass die Frauen nicht Schuld seien, ist das ein sehr intensiver und berührender Moment. Vielleicht auch, weil die Schauspielerin dafür den Soziolekt beiseite legt und eindringlich appelliert.
Eindrücklich, das ist auch das in die gleiche Richtung ziehende „el violador eres tu“. Der choreografierte Protestsong gegen eine patriarchalische Gesellschaft wurde erstmals von Frauen in Chile skandiert und ist längst viral. „Es war nicht meine Schuld, egal, wo ich war oder was ich anhatte. Der Vergewaltiger bist du!“ tönt es wütend rund um den Globus und jetzt auch im Schauspielhaus Salzburg.
Spannende Figurenführung
Auch das musikalische Repertoire speist sich aus einem klugen Arrangement an spannenden Songs plus der bekannten Dr. Oetker Werbung anno letztes Jahrhundert. Doch zwischen all der Kritik an der maskulin geprägten Gesellschaft, erstarrten Rollenbildern und #metoo geizt Anne Simons REIGEN auch nicht mit humorigen Einlagen. Bülent Özdils ironischer Ehegatte ist kein Kostverächter und hat gleichzeitig Arthur Schnitzler in der Hosentasche stecken. Grund genug für die modern gekleidete Emma (Tilla Rath mit Kurzhaarperücke und ambivalentem Nein), die Worte des großen Meisters nachzuspielen. Auch Simon Jaritz-Rudle macht sowohl als junger Herr beziehungsweise später als Dichter eine vergnügliche Figur.
Spannend die Figurenführung. Wurden dem süßen Mädel (Magdalena Oettl) vermutlich K.o. Tropfen verabreicht, liefern sich Marie und Alfred einen ganz eigenen Tanz. Alles kann, nichts muss bei dieser Choreografie. Im starken Kontrast dazu der Missbrauch von Marie durch den Soldaten (Bülent Özdil). Je weiter der Reigen voranschreitet, desto drastischer nimmt der Soziolekt ab und wandelt sich bei dem einen oder anderen schließlich sogar in deutschen Standard. Das könnte damit argumentiert werden, dass es die neue Hochsprache der bürgerlichen Mittelschicht sei, aber ganz will die Illusion nicht aufgehen. Fast scheint es, als würde sich dadurch ein neues Stück öffnen. Schnitzler ist längst in Vergessenheit geraten. Müsste man in diesem Fall also nicht viel mehr von einem Regietheater lose basierend auf Schnitzler sprechen?
Wie immer es auch genannt werden darf, der REIGEN dreht sich munter weiter. Die Bühne bittet zum Totentanz der modernen Gesellschaft und arbeitet dafür mit Licht und Schatten. Tilla Rath zelebriert als tonangebende Schauspielerin das vom Dichter (Simon Jaritz-Rudle keck und um keine Ausrede verlegen) so gepriesene Kamasutra. Wenn das Arthur Schnitzler wüsste. Der würde sich aber vermutlich ohnehin freuen. So als Arzt und Freud’scher Doppelgänger. Einen Skandal gab es diesmal zwar nicht, trotzdem gelang es Anne Simon, auch mit dem neuen alten Stoff aufhorchen zu lassen und zum Hinsehen zu zwingen. Und das ist ja schon wieder sehr Schnitzler.
Fotonachweis: Jan Friese
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