Die Wahrheit | Schauspielhaus Salzburg

Die Wahrheit – Schauspielhaus Salzburg

DURCH DIE ROSAROTE BRILLE.

Die neue Spielzeit startete am Schauspielhaus Salzburg mit Anne Simons Inszenierung von DIE WAHRHEIT als durchgeknalltes, rosarotes Rokoko-Spektakel. Magnifique!

Bestimmte Stücke sind mit bestimmten Erwartungen verknüpft. Wer zeitgenössische französische Komödie liest, denkt zum Beispiel mit ziemlicher Sicherheit zuerst an Yasmina Reza. Dann vielleicht an Philippe Jean Marie de Chauveron oder Eric Assous. Anne Simon kümmert das wenig. Zum Auftakt der neuen Spielzeit bricht die Regisseurin am Salzburger Schauspielhaus mit Erwartungen und verfrachtet die französische Moderne zurück ins Rokoko. Üblicherweise funktioniert es ja genau andersherum. Shakespeares „Macbeth“ als so-und-so-vielter neuzeitlicher Krimi, Goethes „Werther“ als 101 moderne Blaupause. Mit Florian Zellers DIE WAHRHEIT sattelt Anne Simon das Theaterpferd  von hinten auf.

In aller Plot-Kürze

Michel hat es nicht so mit der Wahrheit, dafür aber umso mehr mit Alice. Das sollte Laurence allerdings nicht erfahren. Mit ihr ist er verheiratet. Auch vor seinem besten Freund Paul hält Michel die Liaison geheim, schließlich ist Alice eigentlich Pauls Frau. Dann allerdings meldet sich Alices Gewissen, sie möchte Paul ihre Affäre gestehen. Keine gute Idee und ziemlich egoistisch, findet Michel. Immerhin könne die Wahrheit Pauls Gefühle verletzten. Als sich der Spieß aber wendet und Michel plötzlich als betrogener Betrüger zur Zielscheibe diverser Flunkereien wird, zeigt er sich nicht mehr ganz so flexibel in seinen Moralvorstellungen.

Paint the town… rosa

Das Bühnenbild ist auf den ersten Blick ein wahr gewordener Mädchentraum. Auf den zweiten eröffnen sich verblüffende Parallelen zum Büro von Professor Umbridge (wer sich jetzt nicht auskennt, googelt Harry Potter). Das rosa Ambiente steht als plastische Riesen-Metapher für die sprichwörtlich rosarote Brille, durch die das Publikum das Geschehen in dieser Produktion ausnahmslos betrachten wird; vom kunstvoll arrangierten Lügenkonstrukt, den flexiblen philosophischen Wahrheits-Theorien bis zu Maske, Kostüm und Accessoires ist in DIE WAHRHEIT alles mit der homogen aufeinander abgestimmten zuckerrosa Glasur überzogen und kreiert eine wunderbare Entfremdung.

Alles Komödie!Die Wahrheit | Schauspielhaus Salzburg

Florian Zeller stellte seiner Komödie Voltaire voran: „Die Lüge ist eine Tugend, wenn sie es erlaubt, das Leiden zu vermeiden. Lügen Sie, meine Damen… Seien Sie tugendhaft… Ich werde Ihnen bei Gelegenheit Gleiches mit Gleichem vergelten.“ Auch Nietzsche und anderer Denker regen auf humorige Weise die amoralische WAHRHEITS-Findung an. Es dürfte aber eine kleine Verbeugung Richtung Voltaire sein, der die kurzweilige Salzburger Inszenierung ihre rokoko-lastige Ausstattung (Agnes Hamvas) verdankt. Voltaire, der als rosaroter Schatten über dem Wahrheitsdiskurs hängt; ein Dialog, der immer wieder von klamaukhaften musicalischen Szenen entschärft und aufgelockert wird. Egal ob Helene Fischer, Britney Spears oder Max Raabe (dessen „Kleine Lügen“ gut und gerne auch als moderne Voltaire-Interpretation funktioniert) – der pointierte Soundtrack verleiht dem schrägen Charakter der Inszenierung einen zusätzlichen hyperbolischen Twist.

#empörteuch

Dass das Schauspiel-Quartett auf der Bühne genauso viel Spaß wie das Publikum hat, wird schnell deutlich. Olaf Salzer begeistert im glitzernden Rokoko-Outfit als Wahrheits-Jongleur Michel. Die Wahrheit | Schauspielhaus SalzburgDas Rattern seiner zeitverzögerten Erkenntnisse ist der Figur so konsequent am Gesicht abzulesen, dass es großartig zum Unterhaltungswert beiträgt. Ungefähr genauso wie Michels Zorn, als er sich unvermutet selbst im Zentrum des Lügengeflechts wiederfindet. Da kennt der betrogene Betrüger kein Halten mehr und empört sich auf so herrlich amoralische Weise, dass kein Auge im Publikum trocken bleiben dürfte. Christiane Warnecke hadert indes als untreue Alice mit ihrem Gewissen. Das hindert die Femme fatale aber nicht, im nächsten Augenblick wieder unbeschwert weniger Skepsis bei Michel einzufordern. Auch als Sängerin läuft Christiane Warnecke zu amüsanten Höchstleistungen auf – und trägt maßgeblich zum potentiellen „Tragedy“-Ohrwurm bei, der spätestens nach der dritten Glitzer-Attacke sitzt.

Flummi auf Kurs

Ohrwurm kann auch Bülent Özdil. Bei den musicalischen Exzessen wirft er sich in Pose: Die Wahrheit | Schauspielhaus SalzburgEgal ob als lebendige Statue, als malender Backgroundsänger oder expressiver „Tragedy“-Teil – Bülent Özdil lässt es mit gepuderter Perücke, Glitzer-Mikro und Mini-Nebelmaschine krachen und die Rampen…, äh, den Entertainer raus. Den beherrscht der Schauspieler vorzüglich und wirft dafür großzügig mit Gliedmaßen um sich. Auch seine Mimik erweist sich als höchst flexibel. In die gleiche Richtung tendiert Susanne Wendes Laurence. Als musicalischer Backup ist die Schauspielerin wie ein Flummi: immer in Aktion, immer euphorisch. Dass ihre imposante Perücke dabei kein Opfer der Schwerkraft wird, ist erstaunlich und auch das Pokerface sitzt. Ausnahmslos. Felsenfest. Bald schwirrt allerdings dem Rest der Kopf – wer sagt in WAHRHEIT eigentlich noch die Wahrheit und wer flunkert, dass sich die Balken des durchgeknallten, rosaroten Rokoko-Spektakels biegen?

Anne Simons Inszenierung beweist: Zeitgenössische französische Komödie funktioniert auch fernab von Yasmina Reza oder Eric Assous. Wunderbar. Mehr Zeitreisen mit durchgeknalltem Rokoko braucht die Welt – der frische Theater-Wind sorgt für launige Unterhaltung fernab gewohnter Trampelpfade.

 

Fotonachweis: Jan Friese

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