Alice. Anatomie einer Suche – ARGEtheater

„Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“

Alice gibt es in Christine Winters Inszenierung ALICE – ANATOMIE EINER SUCHE gleich satte dreimal: Ein kurzweiliges, einfühlsames und wunderbar groteskes Coming-of-Age Stück in Nonsense-Tradition.

Das Erstaunliche an Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ ist ja, dass es jede*r, und zwar wirklich jede*r, kennt. Sogar die, die noch keine einzige Zeile daraus gelesen haben, sind bestens informiert. Das liegt nicht nur an den zahlreichen Verfilmungen des populären Klassikers, der seinen Erfolgszug 1865 von England aus antrat. Das Pionierstück des literarischen Nonsense schrieb sich nach und nach ins kulturelle Gedächtnis und richtete es sich wohnlich ein. Von dort aus lässt es jetzt seinen Blick schweifen und bleibt dieser Tage an Christine Winters ALICE – ANATOMIE EINER SUCHE hängen.

Nein, ALICE – ANATOMIE EINER SUCHE ist nicht die 101. Neuinszenierung des Carroll’schen Originals. Vielmehr nahm sich seine junge Regisseurin, Autorin, Schauspielerin und überhaupt Hänsin-Dampf-in-allen-Gassen des wohldosierten Wahnsinns und der verkehrten Logik der „Alice“-Romane an und holte sie als Performance ins 21. Jahrhundert (Text & Regie: Christine Winter, Ausstattung: Morris Wick, Christine Winter, Bühne: Christine Winter, Musik: Christopher Biribauer, Lichtdesign: Stefan Ebner).
Alice ist zeitlos und deshalb immer auf der Suche nach ihrer Identität. Zwischen Kindheit und den Anfängen der Pubertät hin und hergerissen, macht sie sich auf und verlässt den geschützten Raum des Wohlbekannten. Der Lehrerin trotzt das Mädchen eher zufällig, auf dem Weg nach Hause läuft ihr das weiße Kaninchen über den Weg. Das hetzt wieder auf der Fährte der Zeit – ist jetzt aber Teil einer Künstlertruppe. Die performt übrigens im ‚White Rabbit Club‘. Dorthin zieht es auch Alice oder sollte man sagen, die Alices? Mit List wird der Türsteher umgangen, was folgt ist eine temporeiche Abwechslung von Krisen auf den Weg ins Erwachsenwerden.

Die strukturierte Suche nach dem Ich

In Christine Winters Inszenierung lässt sich Alice nicht festlegen. Stattdessen gibt es ihrer drei: Alice #1 ist die Schüchterne, Unsichere, die ewig Zweifelnde (Dorothee Höhn wohldosiert timid und später immer lebenslustiger). Gleichzeitig entpuppt sich Alice #2 als die Freche, die gegen sämtliche Regeln aufbegehrt und die die Unsichere zu mehr Mut anstachelt (Christine Winter wunderbar eigensinnig und lebendig). Dass sie dabei bisweilen gerne Grenzen überschreitet, gehört zum Coming-of-Age Prozess. Alice #1 und Alice #2 sind eng verbunden; wie beste Freundinnen und Schwestern tauschen sie Geheimnisse, beenden bisweilen ihre Sätze und sind doch nicht eins. Und dann ist da noch die mysteriöse dritte Alice, die in sicherer Distanz verharrt und sich schließlich als die Vernünftige outet (Victoria Morawetz unaufdringlich und gleichzeitig präsent). Dass die drei Alices bei Bedarf auch im Chor sprechen, ist ein gelungener Performance-Zug, der einerseits ihre Zusammengehörigkeit offenlegt, andererseits die eigene adoleszente Zerrissenheit akzentuiert. So geschieht es, dass die eine Alice plötzlich die andere in einen der Kuben aus Metallstangen mit Frischhaltefolie einwickeln lässt. All das Flehen von Alice #1 ist vergebens, Alice #2 kennt kein Erbarmen. Die Schüchternheit einmal aus dem Weg geschafft, geht sie in die Vollen.

Die einzelnen bekannten ALICE Figuren aus dem englischen Original scheinen in Ch. Winters Performance einerseits künstlerisch-alltäglich, andererseits oszillieren sie zu Anthropomorphisierungen. Die Grinsekatze ist eine akrobatisch und Körperspannung par excellence performende Cat (aufreizend Lisa Kuhn). Der Zeit hingegen hetzt das weiße Kaninchen Lukas nach – Thomas L. Hofer in der Rolle des coolen, ersten Schwarms mit desillusionierenden Tendenzen. Zugleich verstecken sich Dominik (Benjamin Büche) und Damian (Morris Wick) als latent prolliges Brüderpaar unter anderen Masken. Die ähneln in ihrer individuellen Origami-Optik übrigens erstaunlich denen aus der FARM DER TIERE, das aktuell in den Kammerspielen läuft. Ok, sie wirken ziemlich identisch. Nun ja, eigentlich scheinen sie sogar gleich zu sein. (Gibt’s da irgendwo eine Quelle? 😉 ).

Cyberlaybrinth und Bewegungschor

Alice im Hier und Jetzt bedeutet allerdings auch, dass die obligatorische Gefahr aus dem Internet droht. Deshalb wurde Lewis Carroll kurzerhand als Figur in sein eigenes Werk verpflanzt und ihm per se eine Vorliebe für kleine Mädchen unterstellt (die übrigens von der Forschung mittlerweile angezweifelt wird). Torsten Hermentin schlüpft mit Fingerspitzengefühl in die Rolle, die den divergenten Charakter mit Hang zum Kindlichen offenbart. Fleißig schreibt er als „WeißerRitter1864“ mit dem Mädchen E-Mails und macht ihr einschlägige Komplimente. Der Name als hübsche Chiffre und Analogie an die Entstehungszeit des Textes. Als Lewis im verbotenen Club auf Alice trifft, fotografiert er sie entzückt. Es möchte einem ganz Angst und Bange werden vor so viel ungesunder Zuneigung und Verehrung zu dem kindlichen Mädchen. Und trotzdem wallt Mitleid auf, wenn Lewis vor Evelyn (Elisabeth Breckner in einer ihrer verschiedenen Rollen) zusammenbricht und auch beim lasziven Bewegungschor so gar nicht in maskuline Wallung gerät.

Unerschöpflicher Zitate-Schatz

Der Weg zum Erwachsenwerden ist nicht leicht. Weil Carroll den verwirrenden Reifungsprozess bereits mit allerlei grotesker Logik und unendlichen Wortspielen pflasterte, tut ihm das die ANATOMIE EINER SUCHE nach. Es ist also Ehrensache, dass sich auch Originalzitate finden lassen. Außerdem tummeln sich in der modernen verkehrten Welt statt Fabelwesen mit bewusstseinsverändernden Fähigkeiten nun Akrobaten*innen und Artisten*innen – die selbstverständlich bewusstseinsverändernde Substanzen konsumieren. Zu lauten Rhythmen bilden sie mit dem Bewegungschor eine homogene Einheit. Der trägt die Gefühle von Alice 1, 2, 3 und Carroll nach außen. Dass die ziemlich aufgeladen sind, versteht sich dabei von selbst. Kindliche Naivität trifft auf erwachende Sexualität – Erwachsensein auf die Sehnsucht nach dem Kindlichen. Entsprechend sinnlich gestalten sich die bisweilen amourösen Choreographien, die spielend wieder in konträre Richtungen fluktuieren. Die metallenen Kuben werden körperlich in die ANATOMIE EINER SUCHE eingebaut und entpuppen sich als unendlich bespielbar.

 ‚Würdest du mir bitte sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll?‘ ‚Das hängt zum größten Teil davon ab, wohin du möchtest‘, sagte die Grinsekatze. ‚Ach, wohin ist mir eigentlich gleich…‘, sagte Alice. ‚Dann ist es auch egal, wie du weitergehst‘, erwiderte die Katze.“ (Lewis Carroll)

ALICE – ANATOMIE EINER SUCHE ist eine Suche nach dem eigenen Ich, das noch irgendwo verloren zwischen Kindheit und dem unvermeidlichen Erwachsenwerden hin und her irrt und gerne gefunden werden möchte. Ch. Winters feinfühlige Interpretation einer adoleszenten Sinnsuche zeigt, dass sich der Einsatz lohnt. Denn das Leben ist tatsächlich ziemlich spannend, mit all seiner Höhen und Tiefen und zwar in jeder Phase des Lebens.

 

 

Fotonachweis: Nadine Schachinger // Herzflimmern (Beitragsbild), Michael Groeßinger // ARGEkultur (Bilder im Blogpost)

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