Das Abendland liegt in Schutt und Asche, aber im „Nachtland“ tönt es dafür umso lauter. Sarantos Georgios Zervoulakos kleckert in seiner Inszenierung der bitterbösen Komödie nicht mit Stereotypen, sondern klotzt. Lachen erlaubt, Nachdenken aber auch.
Team Erbenkreis zum Rapport, Team Erbenkreis bitte. Tatsächlich mangelt es in Sachen besenrein ganz gewaltig in „Nachtland“, auch wenn das Ensemble beim Einlass bereits Pinsel und Staubsauger schwingt und der Geruch von Farbe in der Luft liegt. Gut, dass mit dem Schwingen ist nicht wörtlich gemeint. Denn das würde Elan voraussetzen. Die Bewegungen auf der Bühne tendieren allerdings vielmehr gen Typus Faultier, also sehr entsch l e u n i g e n d . Das wiederum ist konsequent und ein erster Hinweis, in welche Richtung sich Sarantos Georgios Zervoulakos‘ Inszenierung der bitterbösen Komödie von Marius von Mayenburg bewegt. Denn genauso wenig wie die Figuren die Wohnung ihres eben erst verstorbenen Vaters in der Spieldauer von „Nachtland“ präsentabel bekommen, werden sie auch die Familiengeschichte wieder ins Lot bringen.
Und das ist auch gut so. Schließlich lebt diese dunkle Satire über die deutsche Schuld von dem Dilemma aus bekannten Vorurteilen, bösen Klischees und einer Brise arroganter Selbstgerechtigkeit – weil: Ganz klar, wir, das Publikum, wir stehen über den Dingen. Oder etwa doch nicht?!
In aller Plot-Kürze
Der Vater von Nicola und Philipp ist gestorben. Beim Ausräumen des Hauses finden die Geschwister ein Aquarell, klein, schlicht gerahmt, ein Dorfidyll mit Kirche, eigentlich nicht der Rede wert, wenn da nicht diese Signatur wäre: „A. Hiller.“ Oder ist das zweite „l“ ein „t“? Eine Expertin bestätigt die Vermutung, ein Händler macht ein unsittliches Angebot. Eine schwarze Komödie über das schwere Erbe der deutschen Vergangenheit – und über die dazugehörigen Erbschaftsstreitigkeiten. (Theatertexte.de)
Braun auf Braun: „Nachtland“
Das Setting bildet eine in Sepiatönen gehaltene Bühne. Da ist sie wieder, diese subtile Note, die Regisseur Sarantos Georgios Zervoulakos „Nachtland“ auf den Leib schneiderte. Das inhaltliche wird wörtlich genommen und die Diskurse ins Visuelle projiziert – oder anders formuliert: Die braune Farbe der Ideologie schwingt nicht nur in den temporeichen, pointiert-bösen Dialogen mit. Sie findet sich auch im Bühnenbild oder in den Figuren und ihren Zeichnungen wieder. Selbst im braunen Backpapier, in den das ominöse Kunstwerk eingeschlagen ist, den Umzugskartons oder den braunen Schuhen der Protagonist:innen.
Da haben Dramaturgie (Tabea Baumann), Regie und Ausstattung (beides Zervoulakos) ganze Arbeit geleistet und dann sogar noch Brownie-Punkte gesammelt. Denn vice versa funktioniert das mit der Symbolik ebenso. Ehemann Fabian (Antony Connor) wird mit seinem verunfallten Daumen zum Sinnbild für den plötzlich entdeckten Nationalsozialismus im eigenen Stammbaum. Am angeblichen Hitler Gemälde sprichwörtlich entzunden, zuckt die Hand alsbald verräterisch nach rechts oben. Antony Connors Fabian sitzt mit schmerzverzerrtem Gesicht da und will die Bewegung unterdrücken, aber es fällt ihm sichtlich schwer. Auch die Ausdrucksweise nimmt ominös-bekannte Züge an, wie man sie aus den Radioübertragungen der NS-Zeit kennt. Im gleichen Tempo schwappt die braune Vergangenheit in die Gegenwart und brodelt unappetitlich vor sich hin.
Meins, meins, meins
Wenn es um die eigene Sache geht, dann kann den Geschwistern keine Lethargie vorgeworfen werden: Temporeich entzünden sich die Gemüter zum schönsten Geschwisterstreit (Petra Staduan und Theo Helm als Nicola und Philipp). Schlagfertig die Dialoge, sprühen sie vor Ironie und düsterem Witz. Petra Staduan verleiht ihrer Nicola dabei eine wunderbar abgebrühte Note. Was als Zickerei zwischen Bruder und Schwester beginnt („warum dein Vater? Du bist kein Einzelkind, er war auch mein Vater“) nimmt bald gröbere Züge an. Die spitze Zunge Nicolas sitzt, wackelt und hat Luft. Verbunden mit dieser gewissen Härte und sehr viel herrischem Selbstbewusstsein, schießt sie ihre giftigen Spitzen gegen Bruder und dessen jüdische Ehefrau (Sophia Fischbacher als Judith).
Spätestens an dieser Stelle, als auf der einen Seite die Nazi-Keule geschwungen und auf der anderen die antisemitischen Klischees ausgepackt werden, erhält „Nachtland“ einen Anflug von Antirassismus-Seminar. Es dominiert ein selbstgerechter Tonfall, von dem es aber auch kein Entkommen gibt, egal wie man die Sache auch dreht oder wendet. Dass dann noch Palästina mit in den Diskurs gezogen wird, sorgt für einen sehr bedrückend aktuellen Aspekt. Sophias Fischbacher gelingt es eindrücklich und wirklich großartig, ihrer Figur diese Verzweiflung einzuverleiben, die eine Jüdin empfinden muss, immer und zu jeder Zeit auf ein ganzes Volk reduziert zu werden und sich in ständiger Verteidigungsposition zu befinden. Eine Szene, die sehr intensiv auf den Punkt gebracht wird und im besten Fall Augen und Verstand öffnet.
Ist das Kunst, oder kann das weg?
Spannender Vergleich, der dem Thema Kunst die Treue hält: Tatsächlich erinnert diese Judith auch an Caravaggios berühmtes Gemälde von Judith und Holofernes. Nur, dass hier in „Nachtland“ das Enthaupten des Holofernes, der übrigens ein assyrischer Feldherr war, auf metaphorischer Ebene und mit reichlich Wasser stattfindet. Alles für die Kunst, nicht nur bei A. Hitler – der vielleicht doch ein A. Hiller war? Philipp (Theo Helm) indes springt emotional aufs Höchste gereizt und gefordert zwischen Schwester und Frau hin und her. Als Mittler versagt er genauso wie als Streithahn, dafür sind Nicola und Judith einfach zu stark. Allerdings ist die Figur ein hervorragender Prellbock, der das Geschehen vorantreibt und immer wieder Öl ins Feuer kippt, damit es auch weiterhin schön blubbert und zischt.
Die Farbe Braun erhält mit Evamaria (Isabella Wolf) schließlich sogar ein eigenes Gesicht. Sie ist die Sachverständige, die das vermeintliche Hitler-Bild sichtet und klassifiziert. Assoziationen zu Eva Braun sind ausdrücklich erbeten. Zugleich ist Wolfs Evamaria auch Symbol für die immer noch mancherorts gegenwärtige Braunfärbung. Herrlich kaltschnäuzig präsentiert sie ihr Faible für den Führer und praktiziert ein ganz neues Level von Fan-Kult, der das Potenzial für kalte Schauer über den Rücken besitzt. In diese gruselige Richtung tendiert auch Antony Connors verklemmt, pedantische Käufer, der das Bild – und Judith obendrein – erwerben möchte.
Moralischer Abgrund
Dass Autor Marius von Mayenburg nebenbei auch noch Dramaturg und Regisseur ist, der Szenisches Schreiben studierte, merkt man. Der Bogen von „Nachtland“ schließt sich formvollendet: mit großem Knall und viel Gelächter. Aber Lachen hilft ja bekanntlich, siehe auch Michail Bachtins Lachkultur. Und das scheint nach Sarantos Georgios Zervoulakos‘ Inszenierung mehr als schlüssig, wo das Abendland in Schutt und Asche liegt – zumindest moralisch betrachtet. Oder wie es Brecht so schön formulierte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Etwas klamaukig nur das übersteigerte Ende, als sich Bruder und Schwester gemeinsam am Boden wälzen. Zumindest akzentuiert dieser bildgewordene Missstand den Verlust der ethischen Werte – mit Nachdruck.
Fotonachweis: Jan Friese
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