Lulu – Salzburger Landestheater

River deep, mountain high

Auf den extremen sozialen Aufstieg Lulus folgt ihr tiefer Fall: In Salzburg lässt sich Carl Philip von Maldeghems Inszenierung des Wedekind Dramen-Streichs LULU auf tragisch groteske Weise höchst gelungen  an.

Wie erfolgreiches Drama funktioniert? Autor nehme ein altes Stück, ergänze es um einen weiteren Aufreger vergangener Tage und rühre geduldig um. Nach 21 Jahren erblickt mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit eine desillusionierende Tragödie mit Hang zur Groteske das Licht der Welt, die das Zeug hat, Jahrhunderte zu überdauern. Woher verfasserin das weiß? Nun ja, Frank Wedekind machte es mit LULU vor, das sich aus seinem „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ speist und mit großem Lärm einschlug.

Lulu, das ist die Kindsbraut, die Dr. Schön als Zwölfjährige von der Straße aufliest und eine Erziehung angedeihen lässt. Aus dem Mädchen wird seine Geliebte, die er schließlich dringlich verheiraten möchte, um sich aus ihrem Bann zu befreien. Alleine, das funktioniert nicht so recht. Die Männer liegen der nun mehr 17jährigen zwar zu Füßen, aber jeder, der sich mit ihr einlässt, segnet früher oder später aus eigener Hand das Zeitliche. Die Jahre vergehen, die Todesfälle häufen sich, aber Lulu liebt ohnedies nur den einen, Dr. Schön. Als er sie schließlich heiratet, ereilt ihn ein ähnliches Fatum wie seine Vorgänger, nur bezieht er es direkt aus ihrer Hand. Lulu wandert für ihre Notwehr ins Gefängnis, aber die nächste Verehrerin steht bereits in ihren Startlöchern. Gräfin Geschwitz befreit die Angebetete, kann aber trotzdem nicht verhindern, dass der Wendepunkt erreicht ist. Lulus Abwärtsspirale lässt sich nicht mehr aufhalten und rattert rasant gen Verderben.

Bei Carl Philip von Maldeghems LULU liegt im Prolog trügerische Heiterkeit in der Luft. An der Garderobe locken Süßigkeiten zum Glücksspiel, Teile des Ensembles werden zu Croupiers und mischen sich unter das nichts ahnende Publikumsvolk. Die in den Saal strömenden Zuschauer*innen werden gutgelaunt von den schmissigen Tönen einer Casino-Band begrüßt.  Der Regisseur emanzipierte das Geschehen und hält passenderweise die Casino-Chiffre für den Prolog aufrecht. Der Tierbändiger wird zur weiblichen Sängerin (Franziska Becker), die Lulu inbrünstig und voluminös als das „wahre Tier, das wilde, schöne Tier“, als „Urgestalt des Weibes“ ankündigt. Locker und beschwingt nimmt sie die Rolle Lulus vorweg, einer amoralischen Kunstfigur. Rien ne va plus, nichts geht mehr.

Eine Bühne voller Archetypen

Das Bühnenbild (Thomas Pegny) ist hell und freundlich und gaukelt mit seinen wilhelministischen Architektur-Zügen durchtrieben ein bürgerliches Idyll vor, das nicht existiert und in späterer Folge subtil dekonstruiert wird. Währenddessen zeigen sich die Psychen der verschiedenen Figuren in ihren hässlichsten Facetten; moralisch verdorben, zeichnen sie ein tristes Bild einer Gesellschaft, die vermutlich gar nicht so sehr im Gestrigen liegt, wie erhofft. Von Lust getrieben, projizieren die männlichen Archetypen stattdessen nur das Spiegelbild ihrer eigenen Weiblichkeits- vorstellungen auf die tragische Frauenfigur.

Axel Meinhardt ist ein verspielter Medizinalrat  Dr. Goll, der Lulu sichtlich vergöttert und leicht dusselig die Gefahr an ihr ignoriert. Als etwas resistenter erweist sich Georg Clementis sensibel leidenschaftlicher Künstlerfeingeist Schwarz. Beinahe simultan wechselt der Schauspieler immer wieder in die Rolle des gnadenlosen, abgebrühten Casti-Piani, der die schöne Lulu arrogant und intrigant an den ‚Ägypter‘ zu verhökern gedenkt. Aber auch Lulus ‚Entdecker‘, Dr. Schön (Christoph Wieschke), ist nicht vor ihrem Charme gefeit. Er trägt den inneren Kampf der Männer übersteigert nach außen und wälzt sich mit ihr auf der Bühne, um den eigenen Trieben wieder Herr zu werden. Ein Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt ist, was Dr. Schön resigniert selbst erkennt und trotzdem wider besseren Wissens handelt. Die Steigerung der Handlung wird in der Salzburger Inszenierung deutlich. Das dramatische Geschehen erfährt mit jedem neuen Mann in Lulus Leben eine Zuspitzung; auch die Todesarten, mit denen sich Lulus gehörnte Ehemänner das Leben nehmen,  steigern sich und kulminieren in einen unfreiwilligen Mord an Dr. Schön.

Als durchtrieben entpuppt sich indes Schigolch (A. Meinhardt), Lulus angeblicher ‚Vater‘, der als Lebenskünstler eine fröhlich-bedrohliche Figur abgibt. Besonders humorig wird es mit Gregor Schulz als Dr. Schöns Sohn Alwa. Schlaksig-schnöselig und in viel zu kurzen Hosen eilt er ungelenk über die Bühne, um seiner ‚Schwester‘ beizustehen. Dabei macht er wenig Hehl um seine eigentlichen Intentionen. Slap-Stick artig werden die beiden schließlich von Dr. Schön in flagranti erwischt. Elisa Afie Agbaglah versteckt sich in der Szene als köstlich verliebter Gymnasiast unter dem Sofa, Hanno Waldners Rodrigo flieht panisch von einer Tür zur nächsten, während auch die Gräfin und Schigolch durch das Bühnenbild hasten.
Lulu ist aber nicht nur Männerphantasie, sondern übt auf Frauen eine ebenso unwiderstehliche Faszination aus. Deshalb ist ihr auch die auf maskulin gepohlte Gräfin Geschwitz (Franziska Becker) mit Haut und Haar verfallen. Verzweifelt beklagt sie ihr Los, lässt sich aber trotzdem devot von Lulu als weder Mann noch Frau beschimpfen und eilt begierig auf jedes noch so kleine Wort der amoralischen Lulu sofort an ihre Seite.

Die „Urgestalt des Weibes“

Lulu! – Nikola Rudle mimt die vielseitig bespielbare Kunstfigur vorzüglich und passt sich feinfühlig den jeweiligen Partnern an. Tendenziell leicht bekleidet (Kostüme: Conny Lüders), wird sie für Dr. Goll zur albernen ‚Nelly‘ (eine Anspielung an die schöne Helena aus der griechischen Antike), während sie für Schwarz bereits die sinnliche ‚Eva‘ ist und Dr. Schön in ihr Goethes ‚Mignon‘ zu erkennen vermeint. Zu den Katastrophen kommt es, wenn sich Vorstellung und Erscheinungsform nicht mehr decken. Für die kann Lulu aber mindestens ebensowenig, wie für die Faszination, die sie auf Männer ausübt. N. Rudle ist eine Femme fatale Widerwillen, deren Schicksal aus genau diesen Gründen bedauernswert erscheint. (Und die sich aufgrund des Textilien-Mangels hoffentlich keine Nierenbeckenentzündung zuzieht… 😉 ).

Für Spannung sorgt das Spiel mit dem zeitlichen Rahmen. Auf den Prolog LULUS erfolgt ein Vorausgriff, der an entsprechender Stelle wieder zurückspringt. Einmal mehr mit dem Handlungskarussell beim Vorausgriff angekommen, repetieren die Schauspieler*innen den bereits vernommenen Text im Zeitraffer. Die Groteske lässt grüßen und aktualisiert das nachträglich erworbene Wissen. Einen eindrücklichen und fulminanten Schluss bildet indes Lulus Aufeinandertreffen mit dem notorischen Frauenmörder Jack the Ripper. Unvermutet multipliziert sich die düstere Figur und tritt Lulu dabei einen Schritt zu nahe.

Die Unaufhebbarkeit des Schicksals

Ist die Büchse der Pandora einmal geöffnet, lässt sie sich nicht mehr so einfach verschließen. Das fragwürdige Gesellschaftsbild transportiert auch C. Ph. von Maldeghems LULU wunderbar auf die Bühne des Landestheaters. Es ist der vorangeschrittenen Zeit und der relativ züchtigen Inszenierung zu zollen, dass sie nicht mehr den gleichen verstörenden Wirbel wie bei der Uraufführung nach sich zieht. Obwohl LULU immer noch aufrüttelt, öffnet sie sich gerade durch die reduzierte Skandalträchtigkeit in Salzburg für ein breites Publikum. Schön!

 

 

Fotonachweis: Anna-Maria Löffelberger // Landestheater Salzburg

Facebooktwitterredditpinterestlinkedinmailby feather

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert