Hair – Gärtnerplatztheater München

Junge Menschen tendieren zu verschiedenen Ansichten und Meinungen. Immer und überall. Gleichzeitig eint sie vermutlich nichts so sehr wie die Rebellion gegen die eigene Eltern-Generation und den damit verbundenen Werten. Dieser subversive jugendliche Esprit konstituiert HAIR, das US-amerikanische Kult-Musical aus dem Jahr 1967, das seit seiner Uraufführung zahlreiche Generationen junger Menschen ansprach und begeisterte. Und es hört nicht auf; auch wenn langes Haar beim Mann heute höchstens nur noch dann für Dissonanzen sorgt, wenn sich die Frage stellt „Dutt oder nicht Dutt?“ und die Ideale der Hippie-Kommunen bereits gönnerhaft als gestrig belächelt werden.

„Die Weißen schicken die Schwarzen in den Krieg gegen die Gelben, um das Land zu verteidigen, das sie den Roten genommen haben.“

Claude Hooper Bukowsky ist auf dem Weg zu seiner Einberufung. Der Vietnamkrieg ist bereits in vollem Gange, als er in einem Park in New York City auf Berger und dessen „Tribe“ trifft. Eine Truppe lebensfroher junger Menschen, die ganz Flower-Power von Friede, Liebe und Glücklichsein träumen, für illegale Substanzen schwärmen und freie Liebe praktizieren. Außerdem engagieren sie sich politisch und fordern „not one more dead“ auf ihren Anti-Vietnamkrieg-Transparenten. Der Junge vom Land schließt sich ihnen an und blüht auf. Er beginnt die Welt seiner Eltern zu hinterfragen, wird bockig und sieht auch seiner Einberufung plötzlich skeptisch entgegen. Dahin ist die Euphorie und die Sicherheit, soll er wirklich in den Krieg ziehen?

Das Publikum von HAIR ähnelt ein bisschen dem der ROCKY HORROR SHOW: Zwischen die normalen ich-will-mir-mal-ein-Musical-ansehen, den Familien-Ausflüglern und den eingefleischten-Musicalsfans tummeln sich immer wieder HAIR-Expert*innen. Blumige Retro-Kleidung als obligatorisches Erkennungszeichen; des öfteren handelt es sich um waschechte Alt-Hippies, oft aber auch um hippie-begeisterte Teenager oder Twens. Ihre Freude wirkt ansteckend und ihr Lebensgefühl verbindet sie mit dem Getümmel auf der Bühne.

Die Bühne selbst ist etwas klein ausgefallen (Regie: Gil Mehmert, Bühne: Jens Killian). Das liegt einerseits daran, dass sich das Stammhaus am Gärtnerplatz immer noch im Umbau befindet und erzwungenermaßen seine Produktionen in andere Stätten auslagert. (Für regelmässige Besucher*innen bedeutet das ein kulturelles Sightseeing oder „venue-hopping“ der anderen Art und ist durchaus empfehlenswert). Andererseits vermutlich auch, da das ausgelassene, hoch motivierte und so gar nicht eingerauchte Ensemble zahlenmäßig stark vertreten ist. Den schmalen Bühnenraum teilt es sich mit einer großartigen Live-Band (musik. Leitung: Jeff Frohner), die ganz hippiemässig ausstaffiert auf der Bühne auf der Bühne (Wortwiederholung intendiert) Platz genommen hat. Und dort alles gibt, was es da eben so zu geben gibt. Das evoziert das Flair von Rockkonzerten und sorgt für fabelhafte Stimmung, gleichzeitig lässt es die Bühne natürlich keinesfalls optisch wachsen. Dieses Kunststück gelingt zumindest der intelligent arrangierten Lichtsituation, die gleichzeitig als Klettergerüst für unter Bewegungsdrang stehende Tribe-Mitgliedern dient und fleißig in Anspruch genommen wird. Die Choreographie des Abends (Melissa King) – man ahnte es bereits – ist temporeich und erstklassig umgesetzt. Gleichzeitig schlägt das hohe Tempo große Wellen und breitet sich auf andere Teile der Inszenierung aus. Song reiht sich atemlos an Song, dialogische Komponenten werden knapp gehalten; etwas außer Atem also auch die Zuschauerin, die dem Geschehen zu folgen sucht.

Die gesangliche Leistung ist hoch. Nichts Geringeres ist vom Ensemble des Gärtnerplatztheaters zu erwarten, das ein auffälliges Maß an großartigen Stimmen beheimatet. Dominik Hees ist als Berger wunderbar besetzt und verfügt ganz nebenbei auch über die entsprechende I-don’t-care-Attitüde, die so ein Berger in HAIR zu vermitteln hat. Stimmlich gelungen vor allem auch Claude (David Jakobs – nur die Perücke ist verhandlungswürdig), Sheila (Bettina Mönch) und Jeanie (Christina Patten). Letztere begeisterte vor allem durch ihr voluminöses und vokal starkes „Hippie Life“, Sheila ist angenehm reduziert und „un-hysterich“. Eine Rolle, die B. Mönch bekommt und sie hervorragend beherrscht. Man darf auf Wiederholungen hoffen.  Dann ist da aber auch noch der große, bunte Rest, der sich empathisch und revolutionär durch den Abend singt, tanzt und philosophiert.

Kostümtechnisch orientierten sich Ausstatterin und Regisseur an den 60iger Jahren (Kostüme: Dagmar Morell). Blümchen, Schlaghosen, Poncho in Anden-Muster und indische Drucke soweit das Auge reicht. Gleichzeitig spiegelt sich auch die aktuelle Sommermode im Kostümbild. Zumindest was die Blümchen-Designs und Schlaghosen anbelangt, die zur Zeit ihr 101. Revival erleben. G. Mehmerts Inszenierung setzt mit dieser Entscheidung auf die sichere Variante. Einzig droht die Gefahr, den Reiz des Verstaubten zu tragen. Dem wird durch Progressivität an anderen Stellen entgegenzuwirken bemüht. Die Nackt-Szene ist nackt. Sehr nackt und gänzlich unverhüllt. Keine Abschwächungen in welcher Form auch immer, wie bei anderen Produktionen gemeinhin der Fall. Dazu wird protestiert. Auch die Zuschauerin mit dem Teenager-Sohn vor uns, die kurz darauf den Saal verlässt, scheint zu protestieren. Ob es aufgrund der detaillierten Nackt-Szene war, ist danach nicht mehr zu ergründen. Antiquierte Kostüme und nackte Progressivität stehen jedenfalls in interessantem Kontrast zueinander.

Am Ende steht die Party. Während des Schlussapplauses werden Teile des Publikums auf die Bühne gebeten, um das Leben zu feiern. Die Stimmung ist ausgelassen, die stehenden Ovationen verpflichten und trotz etwaigen Bühnengröße-Herausforderungen ist HAIR ein Musical, das für einen unvergesslichen Abend sorgt.

 

Fotonachweis: Christian POGO Zach // Gärtnerplatztheater

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